20 Jahre Amazon und die Ideologie des Silicon Valley

Am vergangenen Wochenende erschien in der »jungen Welt« ein Interview mit mir »über 20 Jahre Amazon, die Ideologie des Silicon Valley und Strategien zur Rettung der Meinungsvielfalt«. Die Fragen stellte Thomas Wagner.

»Man glaubt, die Demokratie nicht mehr zu benötigen«

Gespräch mit Daniel Leisegang. Über 20 Jahre Amazon, die Ideologie des Silicon Valley und Strategien zur Rettung der Meinungsvielfalt

jW: Der Internetversandhändler Amazon verspricht günstige Preise, auf den Kunden zugeschnittene Empfehlungen, unverzügliche und unkomplizierte Lieferung. Sie setzen sich in Ihrem Band »Amazon. Das Buch als Beute« sehr kritisch mit dem US-Konzern auseinander. Warum?

Daniel Leisegang: Ich war früher selbst Kunde bei Amazon – und als solcher leuchtete mir das Konzept zunächst ein. Ich arbeite jedoch auch in einem Verlag, der mit Amazon zu tun hat. Und aus dieser Perspektive ergibt sich ein gänzlich anderes Bild. Kunden, die auf der Amazon-Website ein Produkt bestellen, sehen nicht, was für eine Maschinerie sie damit in Gang setzen und was beispielsweise in den Lagerhallen des Unternehmens passiert. Erst die im Februar des vergangenen Jahres ausgestrahlte Fernsehdokumentation »Ausgeliefert« machte einem breiteren Publikum deutlich, was für ein Arbeitsregime dort herrscht. Schaut man hinter die Fassade, wird schnell klar, daß Beschäftigte, Verlage, der Buchhandel und die Kunden von Amazon langfristig mehr Schaden denn Nutzen davontragen, wenn sie sich mit Amazon einlassen.

Das Unternehmen wurde 1994 von Jeff Bezos gegründet. Was hat ihn damals an Büchern interessiert?

Er war damals bei dem Unternehmen D. E. Shaw angestellt, das in der Finanzbranche tätig ist. Zu dieser Zeit kam gerade das Internet auf, und Bezos sollte herausfinden, wie man aus dem rasant wachsenden Netz Profit schlagen kann. Er erkannte, daß man mit Produkten und Daten ein lukratives neues Geschäftsfeld würde eröffnen können. Als besonders aussichtsreich erschien Bezos der Buchhandel: Das Produkt, auf das seine Wahl fiel, als er sein eigenes Unternehmen gründete, war das Buch. Bücher sind leicht zu lagern und zu versenden. Außerdem gab es auf diesem Markt in den USA nur wenig Konkurrenz, denn die großen Buchhandelsketten waren noch nicht im Onlinebuchhandel vertreten. Bezos entschied sich kurzerhand, selbst das Risiko zu wagen, mietete in Seattle ein kleines Lager an und stellte innerhalb weniger Monate ein digitales Bestellsystem auf die Beine. Schon zu Beginn ging er überaus trickreich vor: So waren zu dieser Zeit zehn Bücher die Mindestbestellmenge beim Grossisten. Um dennoch eine rasche Lieferung zu erreichen, umging Bezos diese Beschränkung: Er bestellte das eine Buch, das der Kunde haben wollte, und orderte zudem neun weitere, die der Grossist nicht auf Lager hatte. Auf diese Weise erhielt Amazon unverzüglich das gewünschte Buch geliefert – inklusive einer Entschuldigung des Händlers, daß die anderen neun Bücher bedauerlicherweise nicht lieferbar seien. Bezos steckte erst mal viel eigenes Kapital in sein Unternehmen. Weil dieses rasant wuchs, bekam er schon nach wenigen Monaten Risikokapital von Investmentunternehmen. Bezos’ Idee war es also von Anfang an, einen bereits bestehenden Markt aus dem Netz heraus zu erobern, also mit Hilfe eines neuen Mediums, eines anderen Vertriebswegs. Der Erfolg zeigte sich schnell: Amazon wuchs rasch – auch dank der konsequenten Ausrichtung auf die Kundenbedürfnisse. Zugleich ging es Bezos keineswegs darum, Profit zu machen, sondern um Wachstum. Aus diesem Grund reinvestierte er von Beginn an alle Einnahmen in das Unternehmen. An dieser Strategie hat sich seit 20 Jahren nichts geändert.

Ein Unternehmen, für das nicht der Profit an erster Stelle steht, sondern die Befriedigung der Kundenwünsche. Das klingt sozial.

Amazon ist keineswegs ein soziales Unternehmen. Im Gegenteil: Der Konzern will durch die Ausschaltung der Konkurrenz so groß und mächtig werden, daß er irgendwann nur noch den Schalter umlegen muß, damit der Profit reingespült kommt. Sobald der Eroberungszug beendet ist, kann Amazon zum Beispiel die Buchpreise erhöhen. Genau dies geschieht bereits in den USA, wo die anderen Konkurrenten auf dem Buchmarkt schon so erheblich geschwächt sind, daß man den Schalter bereits umgelegt hat.

Derzeit wird zwischen der EU und den USA über ein Freihandelsabkommen verhandelt. Hat Amazon, das als US-Unternehmen auch in Europa agiert, in diesem Zusammenhang eigene Interessen?

Das Interesse der Konzerne besteht darin, Handelshemmnisse abzubauen. Als ein solches Handelshemmnis begreift Amazon die in den USA unbekannte Buchpreisbindung, die Rabattschlachten verhindern soll. In den USA gibt es eine solche Preisschranke nicht, und Amazon kann dort seine Preise nach Belieben verändern und die Konkurrenten mit seiner Strategie der roten Zahlen immer wieder unterbieten.

Hierzulande unterläuft Amazon schon jetzt die Buchpreisbindung. So hat der Konzern in Großbritannien den britischen Internetbuchhändler Book Depository gekauft. Mit dessen Hilfe reimportiert Amazon deutsche Bücher in die Bundesrepublik mit einem Preisnachlaß von bis zu 20 Prozent. Weil die Buchpreisbindung in Großbritannien nicht gilt, kann Amazon den Preis dort verändern. Das ist eine Strategie der Nadelstiche. Bei den E-Books, diesen Markt dominiert Amazon mit dem Kindle-Lesegerät ohnehin schon, geht der Konzern noch drastischer vor. Die Leipziger Buchmesse hat ein Literaturfest, das nennt sich »Leipzig liest«. Zu Messebeginn gab Amazon im letzten März zum einen bekannt, auch in Deutschland sein Verlagsgeschäft massiv ausbauen zu wollen. Zum anderen startete der Konzern mit »Kindle liest« eine provokative Aktion. Er untersagte seinen eigenen Autoren, während der Buchmesse bei anderen Anbietern Bücher zu verkaufen. Zugleich senkte er auf seiner eigenen Plattform deren Preise um fünfzig Prozent. Auf diese Weise konnte Amazon die Buchpreisbindung umgehen, weil diese Bücher nur dort erhältlich waren.

Versucht Amazon auf direkte Weise, die Verhandlungen über das Freihandelsabkommen in seinem Sinne zu beeinflussen?

Man hat es hier mit zwei Spielern zu tun, die ihre Karten nicht aufdecken. Von Amazon erfährt man sehr wenig, und auch die Verhandlungsgruppen veröffentlichen nicht, was sie vorhaben. In den ausgehandelten Verträgen steht mitunter sogar drin, daß erst Jahre nach deren Inkrafttreten Details veröffentlicht werden dürfen. Man kann daher nur Mutmaßungen anstellen. Sicher ist: Lobbyismus findet statt, und Amazon befindet sich schon jetzt offen im Kampf um höhere Nachlässe, die es von den Verlagen bei E-Books verlangt. Ziel ist es, die E-Book-Rabatte von 30 auf 50 Prozent hochzutreiben. Dafür legt sich sich der Konzern gerade mit den Verlagshäusern Hachette und Bonnier an – zwei vergleichsweise großen Playern der Branche, die allerdings nicht so groß sind, daß sie Amazon wirklich schaden könnten, wenn die deren Bücher nicht verkaufen würden. Um einen höheren Rabatt zu erzwingen, verzögert Amazon gezielt den Auslieferungsprozeß der Bücher dieser Verlage. Diese sind von dem Internetversandhändler abhängig und müssen derzeit erhebliche Umsatzeinbrüche hinnehmen. Man kann hier also von Erpressung sprechen.

Amazon wird vorgeworfen, seine Kindle-Geräte auch zum Ausspähen seiner Kunden zu benutzen.

Auf den neuen Kindle-Lesegeräten, dem Kindle-Tablet und dem Kindle-E-Reader, wird unentwegt mitgeschnitten, was ich als Kunde mache. Wenn ich nicht ausdrücklich widerspreche, leitet zum Beispiel der Browser, den ich auf dem Tablet nutze, den Datenstrom über Amazons Server. Dadurch kann der Konzern auswerten, was ich online mache. Bei dem E-Reader weiß Amazon hingegen exakt, was der Nutzer wann, wie lange und wo liest. Außerdem übermittelt das Gerät sämtliche Anmerkungen, Anstreichungen und was der Kunde mit anderen austauscht. Darüber hinaus hat Amazon vor gut einem Jahr die Internetplattform Goodreads gekauft, auf der sich Leser über Bücher austauschen können. Auf diese Weise erfährt das Unternehmen noch mehr über die Bedürfnisse der Kunden. Mit Hilfe der gewonnenen Daten können nicht nur die Produktempfehlungen, sondern in Zukunft auch die Produkte selbst, sprich: die Bücher, auf die Kundenwünsche hin optimiert werden, ganz so, wie es heute schon bei Fernsehserien geschieht. Einige Verlage orientieren sich bereits in diese Richtung.

Jeff Bezos hat sich vor einigen Monaten gleich eine ganze Zeitung gekauft: die Washington Post. Warum?

Die Washington Post ist ein sehr renommiertes liberales Blatt in den USA. In den vergangenen Jahrzehnten war sie für eine Reihe von politischen Enthüllungen verantwortlich. Jeff Bezos hat die Zeitung als Privatperson gekauft. Als solche verfolgt er eine Reihe von verrückten Projekten: Zum Beispiel baut er Raketen, um Touristen ins All zu schicken. Und auf seinem Anwesen in Texas hat er im Inneren eines Berges eine 60 Meter hohe Uhr gebaut, die für die nächsten 10000 Jahre die exakte Zeit angeben soll. Möglicherweise handelt es sich beim Zeitungskauf um ein ähnliches Projekt. Ich glaube das aber eher nicht.

Ich denke vielmehr, daß Bezos zum einen den Journalismus in das digitale Zeitalter überführen will, etwa indem er die Zeitungsinhalte mit dem Kindle-Lesegerät koppelt und Amazon-Kunden einen exklusiven Zugang zu journalistischen Inhalten gewährt – Bücher, Filme, Musik und Nachrichten in einem Paket. Zum anderen glaube ich, daß er mit der Washington Post mehr Einfluß auf die Politik erlangen will. Amazon ist auf dem Weg, ein Medienimperium zu werden. Der Konzern hat seit 2009 ein Dutzend Verlage ins Leben gerufen und produziert mittlerweile auch eigene Fernsehserien. Welchen politischen Einfluß man durch ein breites Angebot in einer Hand haben kann, sieht man ja in Ländern wie Italien oder Großbritannien. Wenn er sich ernsthaften politischen Angriffen ausgesetzt sähe, wäre Bezos heute auch dank der Washington Post in der Lage, im öffentlichen Raum gehörig zurückzufeuern. Und die Zeitung hat in den vergangenen Jahren mehrfach bewiesen, daß sie selbst führende Politiker stürzen kann.

Welche politischen Manipulationsmöglichkeiten es für Internetkonzerne wie Google, Amazon und Co. gibt, hat man nicht zuletzt im Wahlkampf von Barack Obama gesehen, der mit Hilfe von Big Data über genaue Kenntnisse verfügte, wer in welchem Stadtteil wohnte und für Wahlwerbung ansprechbar war. Ob Amazon solche Möglichkeiten heute schon nutzt, weiß man nicht genau. Das kann jedoch alles kommen.

Gibt es zwischen den großen, miteinander konkurrierenden Internetkonzernen in den USA so etwas wie gemeinsame Kampflinien? Kooperieren sie auch miteinander?

Sie tun das vor allem immer dann, wenn es ihren jeweiligen Interessen entspricht: zum Beispiel beim Thema Netzneutralität, also dem Prinzip, daß alle Daten im Internet gleich behandelt werden. Sie verteidigen die Netzneutralität, weil Extrazahlungen beispielsweise für Videos, die eine große Bandbreite erfordern, ihrem eigenen Geschäft schaden würden. Zum anderen konnten sie sich damit an die Spitze einer Bürgerrechtsbewegung stellen, welche ebenfalls die Gleichbehandlung aller Daten fordert, damit kleine Anbieter gegenüber den großen nicht benachteiligt werden. Das war gut für das eigene Image. Doch muß man sich vor Augen führen, daß Unternehmen wie ­Facebook, Amazon, Google, Microsoft und Apple untereinander einen unerbittlichen Konkurrenzkampf führen. Es geht am Ende immer vor allem wieder darum, die Kunden in das eigene sogenannte digitale Ökosystem reinzulocken und an dieses zu binden.

Gemeinsam ist diesen Konzernen jedoch eine Ideologie, die in einem Zitat von Jeff Bezos zum Ausdruck kommt: »Nicht Amazon wirkt auf den Buchhandel ein, sondern der Fortschritt.«

Diese Unternehmen sind tatsächlich beseelt von dem Glauben, daß sie die Zukunft verkörpern. Das geht zurück auf eine Vorstellung, die Evgeny Morozov und andere als »Solutionism« bezeichnen. Das heißt, die Unternehmen hängen dem Glauben an, mittels »smarter« Produkte nicht nur technische, sondern auch gesellschaftliche Probleme und Konflikte lösen zu können. Sie denken, sie seien in der Lage, die Probleme der Menschen zu erkennen, noch bevor diese selbst dazu in der Lage sind, und ihnen dann dafür die technischen Lösungen zur Verfügung zu stellen: von Antworten auf Suchanfragen, die noch gar nicht gestellt worden sind, über selbstfahrende Autos bis hin zu lebensverlängernden Maßnahmen. So will Google die DNA entschlüsseln und damit zur Weltgesundheit beitragen. Letztendlich geht es darum, die Hindernisse des Lebens und alles, was in einer Gesellschaft an sozialen Konflikten vorhanden ist, mit Hilfe der Technologie zu lösen. Diese Ideologie hat ihre Wurzeln im Silicon Valley. Amazon ist zwar in Seattle beheimatet, aber zweifellos ebenso davon eingenommen. Daraus erklärt sich auch eine gewisse Arroganz gegenüber den traditionellen Verfahren und Institutionen bis hin zur Demokratie. Man glaubt, diese Demokratie nicht mehr zu benötigen, sondern nur noch bestimmte Algorithmen in Gang setzen zu müssen, die versprechen, Probleme viel besser und effizienter zu lösen.

Die Weltverbesserungsabsichten stehen im Fall von Amazon im krassen Gegensatz zur Auffassung des Internationalen Gewerkschaftsbundes (IGB), der Jeff Bezos zum schlimmsten Chef des Planeten kürte. Wie paßt das zusammen?

Konzerne wie Amazon verorten sich selbst nicht nur inmitten einer revolutionären Umwälzung, sondern sehen sich obendrein an deren Spitze. Allerdings hat die Sache einen großen Haken: Für die vermeintliche Revolution benötigt man immer noch Arbeitskräfte. Sie müssen die Ware raussuchen, verpacken und vom Lager an die Haustür des Kunden liefern. Die ganze Vertriebskette ist von prekärer Arbeit durchsetzt. Und die absolute Kundenorientierung führt dazu, daß Bezos die Menschen in seinen Lagerhallen so hemmungslos ausbeutet, wie wir das mittlerweile wissen. Bei Apple ist das ähnlich. Letztlich folgen auch diese Konzerne den schlichten kapitalistischen Gesetzen.

In der Logik sowohl des technologischen Verständnisses dieser Konzerne als auch der kapitalistischen Konkurrenz läge nicht die Verbesserung der Arbeitsbedingungen der Mitarbeiter, sondern deren schrittweise Ersetzung durch Roboter.

Genauso ist es. Amazon hat im März 2012 für 775 Millionen Dollar den Roboterhersteller Kiva Systems aufgekauft. Das Unternehmen produziert fahrende, weitgehend autonom agierende Regale, mit denen die Amazon-Lagerhallen in Bälde ausgerüstet werden sollen. Künftig werden also nicht mehr die »Picker«, sondern die Regale selbst die Waren zu den »Packern« bringen. Und vermutlich bastelt Amazon schon an einer Lösung, wie auch diese über kurz oder lang durch Maschinen ersetzt werden können. Denn auf Arbeiter, die krank werden oder gar für bessere Arbeitsbedingungen streiken können, will man möglichst verzichten. Solange es aber diese Roboter noch nicht gibt, versucht Amazon mit allen Mitteln, den Lohn weiter zu drücken. Erst kürzlich hat der Konzern zwei neue Hallen in Polen nahe an der Grenze zu Deutschland eröffnet, die künftig die ostdeutschen Bundesländer beliefern sollen. In den polnischen Lagerhallen liegt der Durchschnittslohn nur bei gut drei Euro – im Unterschied zu über neun in Deutschland. Damit reagiert Amazon auf den Druck, den die Gewerkschaft ver.di seit Monaten mit ihrem Arbeitskampf ausübt. Ver.di versucht durchzusetzen, daß die Arbeiter nicht mehr nach dem Tarifvertrag der Logistikbranche, sondern nach dem des Einzel- und Versandhandels bezahlt werden. Der Lohn wäre höher, und es gäbe für die Beschäftigten günstigere Regelungen – zum Beispiel bei der Nachtarbeit. Der Konzern ignoriert den Arbeitskampf bislang, und die Gewerkschaft beißt sich die Zähne aus. Es gibt mittlerweile zwar einige Betriebsräte, und die von den schlechten Arbeitsbedingungen betroffenen Beschäftigten tauschen sich im Netz aus. Doch die Fluktuation unter den Leiharbeitern ist so groß, daß die Gewerkschaft es enorm schwer hat, die Leute auf die Straße zu bringen. Amazon dagegen fällt es sehr leicht, Ersatz für ausgeschiedene Arbeiter zu finden. An dieser Stelle ist die Politik gefragt.

(www.jungewelt.de)


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